Schuld und Unschuld in der Diktatur
Konrad Löw hat in das politisch korrekte Wespennest gestochen, indem sich der Frage der Schuld der Deutschen während der Nazi-Diktatur auf eine Weise genähert hat, die die Herausgeber der Zeitschrift Deutschland-Archiv aufs Äußerste empört hat (siehe hierzu Die Welt). Die Herausgeber der Zeitschrift, die Bundeszentrale für politische Bildung und der W. Bertelsmann Verlag entschuldigten sich bei allen Abonnenten für Löws Aufsatz "Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte" aus dem aktuellen Heft 2/2004 und wollen auch die restliche Auflage des Heftes nicht mehr verkaufen. Nun muss man sicherlich einräumen, dass die Eigentümer eine Zeitschrift natürlich das Recht haben, sich bei den Abonnenten zu entschuldigen und auch eine Restauflage einzustampfen. Dies hat mit Zensur absolut nichts zu tun. Die Frage, wie das Verhalten der Bürger innerhalb einer Diktatur moralisch zu bewerten ist, ist allerdings keineswegs einfach zu beantworten und die von Konrad Löw vertretene Auffassung stellt sicherlich eine theoretisch mögliche Antwort dar. Löw beschreitet auch keineswegs die Pfad des historischen Revisionismus, der das Nazi-Regime durch Leugnung aller oder eines Teils seiner Verbrechen moralisch entlasten will, was die Reaktion der Herausgeber hätte verständlich erscheinen lassen. Löw entschuldigt die Normal-Deutschen dieser Zeit. Seine Entlastung gilt zunächst einmal denen, die Hitler in der Weimarer Republik durch ihre Stimmabgabe mächtig machten: "Für Hitlers rasanten Aufstieg gibt es nur eine Erklärung, nämlich die sprunghaft steigende Arbeitslosigkeit, die schier unvorstellbare Not, gegen die die etablierten Parteien offenbar kein Rezept hatten; Hitlers Antiseminitismus spielte eine untergeordnete Rolle." Man erkennt bereits an diesem Argument, dass Löw äußerst gnädig mit den Hitler-Wählern umspringt. Es folgt keine moralische Bewertung des Verhaltens dieser Wähler und Löw versucht auch nicht, sich der Gedankenwelt dieser Wähler zu nähern, denn der Zustand der Arbeitslosigkeit als alleinige Erklärug für die Wahl einer Partei, die recht offen eine Diktatur als Lösung gesellschaftlicher Problem empfahl, erscheint doch recht oberflächlich. Auch die Zeitspanne der Dikatatur selbst nennt Löw die durchaus bekannten Argumente der Entschuldigung für die deutschen Durchschnittsbürger dieser Zeit, also mangelndes Wissen über die Verbrechen, die zunächst nur geringe Anzahl solcher Verbrechen, die Annahme, es handle sich um Exzesse oder Hitler wüßte davon gar nichts etc. Daher seine Schlussfolgerung: "Wir dürfen nicht zögern, die Verbrechen des NS-Regimes als wichtigen Teil der deutschen Geschichte, der deutschen Identität zu bekennen. Aber wir sollten jenen entgegentreten, die allgemein von deutscher Schuld sprechen, wenn damit gemeint ist, daß die große Mehrheit der damals lebenden Deutschen mitschuldig gewesen sei an einem der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte." Die Gegenposition zu der von Löw können wir bei Ayn Rand in einer Fragestunde im Ford Hall Forum aus dem Jahr 1976 beobachten. Die Antworten von Rand sind auf der Website des Ayn Rand Institute veröffentlicht worden, allerdings mit dem Hinweis, dass Rand diese Version nicht ausdrücklich gebilligt habe. Die Frage an Rand zielte allerdings nicht auf Nazi-Deutschland, sondern es ging hier um die Sowjetunion, aber ihre Antwort behandelt das von Konrad Löw aufgeworfene Problem der moralischen Verantwortung der Bürger in einer Diktatur. Rand sagt über die Situation in der Sowjetunion: "In Sowjetrussland gibt es nicht sehr viele Unschuldige, und sie sind hauptsächlich in Konzentrationslagern." Dann sagt sie, dass ein politisches System, ob gut oder schlecht, in "unserem Namen" etabliert wird und wir Verantwortung dafür tragen. Wer das Land nicht verlasse, der akzeptiere es, heißt es weiterhin. In einem Radio-Interview aus dem Jahre 1960 vertritt Rand allerdings die Auffassung, dass ein Mensch, der mit dem Tode bedroht wird, für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann. Dies sei eine Notfallsituation, und was immer dieser Mensch tue, sei richtig. Man könne nicht erwarten, dass ein Mensch sein Leben opfere für einen anderen Menschen, wenn es nicht seine Schuld ist, die ihn in diese Position gebracht hat. Dieses Argument erwähnt Rand allerdings nicht in der oben erwähnten Antwort auf die Frage nach den Unschuldigen in Sowjetunion. Wenn man sich eine Person in Deutschland während der nationalsozialistischen Diktatur vorstellt, die vor 1933 immer sozialdemokratisch gewählt hat, danach weder in der NSDAP war, nicht am Krieg teilgenommen hat, niemanden denunziert hat, in keinem Rüstungsbetrieb gearbeitet hat, dann muss man sicherlich sagen, dass die individuelle Schuld dieser Person relativ gering ist. Für Löw wäre sie sogar nichtexistent, aber auch diese Person hat das Land nicht verlassen und auch diese Person hat mit ihrer Arbeit zum Überleben des Systems beigetragen. Personen, die dem Regime näher standen, haben sicherlich noch mehr Schuld auf sich geladen. Wer aus welchem Grunde überhaupt schuldig ist, erfährt man bei Löw an keiner Stelle. Der entscheidenden ethischen Frage, wann Menschen, die in einer Diktatur leben, für ihre Taten verantwortlich gemacht werden können oder wann nicht, wendet sich der Politikwissenschaftler Löw so zu, als sei dies offensichtlich: "Das Grundgesetz deklariert in Art. 20 (4) das Recht zum Widerstand. Von Pflicht ist nicht die Rede. Wo ist die Ethik, die ohne Rücksicht auf eigene Gefährdung den Widerstand gegen eine mörderische Gewalt zur Norm erhebt." Löw unterstellt hier, dass es nie Alternativen des Handelns für die Menschen in Deutschland gab, dass immer eine mörderische Gewalt mit dem Gewehr in der Hand die Bürger in einen entschuldigenden Notstand versetzte. Aber war dies die Realität? Man kann sicherlich viel gegen Willy Brandt als Politiker vorbringen, seine Nachgiebigkeit gegenüber dem Kommunismus, seine Politik des Wohlfahrtsstaates und der "Demoratisierung", die Eigentumsrechte verletzte, aber man kann ihm nicht vorwerfen, Deutschland verlassen zu haben. Dies war eine moralische Tat. Und sie stellt das Handeln derjenigen in Frage, die seinem Beispiel nicht folgten. Ein Massenexodus aus Deutschland 1933 hätte das sich etablierende Nazi-Regime wahrscheinlich schon frühzeitig zu einem schnellen Ende geführt. Wir alle wissen, dass es nicht so kam.
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