Mittwoch, Oktober 29, 2003

"Ich wähle das Recht"
Der russische Präsident Putin hat den Großunternehmer Michail Chodorkowskij verhaften lassen. Eine Sprecherin des deutschen Außenministers äußerte gestern, dass man ein rechtsstaatliches Verfahren erwarte. In der Sprache der Diplomatie soll dies wohl bedeuten, dass man ein entsprechendes Verfahren anmahnt. Dies ist sicherlich auch vonnöten, denn Russland hat mit einem Rechtsstaat ebenso viel zu tun wie der Osterhase mit Weihnachten. Putin selbst äußerte sich dahingehend, dass dies jetzt eine Angelegenheit der Justiz sei, was wohl bedeutet, dass die grundsätzliche Entscheidung gefallen ist und Putins Handlanger in der Justiz jetzt ihren Dienst verrichten.

Das Handelsblatt interpretiert die Inhaftierung des Großaktionäres des Ölunternehmens Yukos als Versuch einer Fraktion der Staatsmacht die Kontrolle über die Schlüsselindustrien wiederzuerlangen:
"Dieses Lager und ihr Institut für Nationale Strategie verlangen die Wiedererlangung staatlicher Kontrolle über die Schlüsselindustrien: Öl, Gas, Metallurgie und Transport'. In den Augen seiner Kritiker holt den ehemaligen KGB-Agenten Putin damit mehr und mehr seine Geheimdienstvergangenheit ein.
Um die totale Kontrolle durch KGB-Kreml-Kader zu verhindern, hatte der RSPP (Unternehmerverband, Anmerk.) kürzlich angeboten, dass sich die größten Konzerne mit viel Geld sozial für die fast 50 Mill. Menschen engagieren, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen. Als einer von wenigen hatte Chodorkowski dieses Geschäft abgelehnt. Stunden vor seiner Festnahme sagte er: 'Ich bin gegen ein Geschäft: Unantastbarkeit gegen Wohltätigkeit. Wenn man jetzt einmal zahlt, verlangen sie später einfach noch mehr. Wenn man zwischen Eigentum und Bürgerrechten wählen muss, wähle ich das Recht.“


In einem anderen Artikel befaßt sich das Handelsblatt mit dem weiteren Schicksal von Chodorkowskij:
"Mut wird der Ölmagnat auch weiter brauchen, denn im Gefängnis wird er so lange erpresst werden, bis er sein Unternehmen 'freiwillig' abgibt – auch dafür gibt es leider Vorbilder in der Putin-Ära. Der Yukos-Chef wird sich dagegenstemmen und immer wieder ein öffentliches Strafverfahren verlangen. Die Mächte des Dunklen, die im Kreml wieder schleichend das Ruder in die Hand genommen haben, aber scheuen das Licht."

Die Iswestija sieht in der Verhaftung Chodorkowskijs gar eine Analogie zur Oktoberrevolution: "„In Russland starb das zweite Mal der Kapitalismus. Das erste Mal durch die bolschewistische Oktoberrevolution am 7. November 1917 und das zweite Mal am 25. Oktober 2003“ mit der Inhaftierung des Vorzeigeunternehmers Chodorkowskij.

Die Nesawissimaja gaseta interpretiert die jüngste Einschüchterungsaktion gegen das russsische Privatkapital als "Kapitalismus mit stalinistischem Gesicht".

Beide Interpretationen sind absurd. Kapitalismus bezeichnet ein gesellschaftlicher System, das auf der Anerkennung individueller Rechte basiert. Ein System, welches als "stalinistisch" eingestuft werden kann, würde eine Negierung solcher Rechte bedeuten. Die Existenz von Märkten oder Privateigentum allein sind nicht hinreichend, um ein kapitalistischen System zu etablieren. Es bedarf einer organsierten Macht, die die Rechte des Einzelnen verteidigt. Ein derartiges System existierte in Russland vor der Verhaftung Chodorkowskijs nicht, ebensowenig wie es vor der Oktoberrevolution in Russland existierte. Man könnte allenfalls sagen, dass sich Russland noch weiter von der Möglichkeit einer kapitalistischen Republik wegbewegt hat, möglicherweise hin zu einem offen faschistischen System.



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