Der Mythos des kapitalistischen Jesus
In der neuesten Ausgabe des ef-magazins gibt es einen Artikel von Robert Grözinger, der den Mythos eines "kapitalistischen" oder gar "anarchistischen" Jesus beitragen soll. In dem genannten Aufsatz erwähnt der Autor auch das Gleichnis vom Weinbauern, das belegen soll, dass Jesus das "private, uneingeschränkte Eigentums- und Vertragsrecht" verteidigt habe. Seltsamerweise schildert der Autor dieses Gleichnis gar nicht, und wenn man die besagte Geschichte in der Bibel nachliest, könnte man den Verdacht hegen, dass dies keine zufällige Unterlassung ist. In diesem Gleichnis geht um einen Weinbauern, der früh am Morgen einige Arbeiter anheuert, die für eine bestimmte Geldsumme in seinem Garten arbeiten sollen. Nach drei, sechs und neun Stunden heuert er weitere Arbeiter an, denen er nur verspricht, dass sie gerecht entlohnt würde. Am Ende des Arbeitstages stellt sich allerdings heraus, dass er alle Arbeiter unabhängig von der geleisteten Arbeitszeit gleich bezahlen will. Man kann sich leicht vorstellen, dass die zuerst eingestellten Arbeiter über diese ungerechte Entlohnungspraxis ausgesprochen unzufrieden waren und das Gleichnis erwähnt auch, dass sie "murrten". Der Weinbauer weist ihren Protest allerdings zurück: "Ist es mir nicht erlaubt, mit meinen Dingen zu tun, was ich will?" Der Kern des Gleichnis besteht aus einer Entlohnung nach dem kommunistischen Prinzip "Jeder nach seinen Bedürfnissen", nicht daraus, der Weinbauer sich im Rahmen seiner Rechte bewegte, was er zweifellos tat. Das "private, uneingeschränkte Eigentums- und Vertragsrecht" ist ein wichtiges Hilfsmittel, dass die Voraussetzung dafür schafft, dass Menschen ihrem rationalen Urteil folgen können. Es ist allerdings keine Garantie dafür, dass Menschen auch tatsächlich moralisch handeln. Der Weinbauer handelt so, wie es vielleicht auch ein marxistischer Unternehmer tun würde, der sich bei der Bezahlung seiner Mitarbeiter möglichst wenig an deren individueller Leistung orientieren möchte.
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