Samstag, Mai 10, 2003

Putin ist kein John Galt
Optimismus ist sicherlich eine sehr gesunde, sehr lebensbejahende Charaktereigenschaft. Allerdings sollte sich dieser Optimismus an den Fakten der Realität orientieren und nicht in einen irrealen Hyperoptimismus oder gar puren Emotionalismus abgleiten, der das Wünschenserte schon für die Realität hält. Bei Andre F. Lichtschlags Russland-Artikel "Das ist wirklich so!" (eifrei Nr. Mai 2003) kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor sich einem grundlosen Optimismus über die Situation des postkommunistischen Russlands hingibt. Jelzin, so heißt es dort, habe im ersten Jahr seiner Präsidentschaft für eine "geradezu liberale Reformflut gesorgt".
Und weiter: "Ist Putin selbst demnach offensichtlich von ordoliberalen Ideen kaum weniger beseelt als etwa Margaret Thatcher, Ronald Reagan oder Silvio Berlusconi, so geht sein engster Wirtschaftsberater gar noch einen Schritt weiter. Denn der Direktor des Moskauer 'Instituts für Wirtschaftsanalyse'. Andrej Illarionow, sieht seinerseits sein größtes Vorbild in der russischstämmigen Hohepriesterin des Kapitalismus, Ayn Rand. Der 'ökonomische Chefguru' Illarionow, wie ihn der prominente russische Journalist Andrej Kolesnikow nennt, konnte seinen Chef dadurch von seiner radikal liberalen Wirtschaftslinie überzeugen, indem er ihm nach nötigen institutionellen und strukturellen Reformen ein jährliches Wirtschaftswachstum von 8 bis 10 Prozent für das ganze Land vorhersagte."

Was Lichtschlag nicht erwähnt: Putin verfügt nicht nur über einen Berater, der Ayn Rand schätzt, sondern hat auch ein Exemplar von Rands Atlas Shrugged in seinem persönlichen Bücherregal. Der kürzlich verstorbenen E. G. Ross warf allerdings zu Recht das große Aber in den Ring: "Putin mag eine Ausgabe von Ayn Rands Atlas Shrugged in seinem Bücherregal haben, aber die Situation der Rechte in Russland bleibt ein schlechter Witz." Ross bemerkte, dass sich der Rechtsstaat in Russland erst zu entwickeln beginne, dass das typische Russe die Bedeutung der individuellen Rechte nicht kenne, und dass Russland die Hauptquellen der individuellen Rechte in den letzten Jahrhunderten versäumt habe: die Renaissance und die Reformation. Ross erwartete, dass Russland weiterhin Auflösungstendenzen zeigen werde, oder zurückfallen werde in eine offene Diktatur oder sogar in einen Totalitarismus. In einem Aufsatz vom 15.03.2002 beschäftigt sich der ansonsten immer recht optimistische Ross erneut mit Russland und der Person Putin: "Vor zwei Jahren sagte ich, dass ich keinen 'Groschen darauf verwetten würde, dass Illarionows Positionen oder Stellungnahmen eine neue ökonomische Revolution in Russland entfachen werden. Russland wird nicht das nächste kapitalistische Utopia werden.' Die Ereignisse haben meine Skeptizimus bestätigt. 'Einen Moment,' haben einige Leser gefragt, 'sicherlich muss jemand, der randianische Weisheiten in Putins Ohr flüstert, einen gewaltigen Effekt haben, oder?' Nein. Tatsächlich hat Illarionow damals zugegeben, dass er keine Vorstellung davon habe, ob Putin selbst Rand bewundere oder ihre freiheitliche Vision teile. Ökonomische Berater des russischen Präsidenten kamen in großer Zahl und verkörpern alle möglichen Richtungen. Immer noch. Sie bewegen sich durch den Kreml wie Bohnen durch eine Mühle. Wenige haben einen entscheidenden Einfluss auf Putin. Er hat seine eigene Vision von Russland, und sie ist keine besonders kapitalistische".

Ernüchternd ist auch die Einschätzung der ökonomischen Freiheit im alljährlichen internationalen Vergleich der amerikanischen Heritage Foundation. Im aktuellen Index wird Russland mit der Punktzahl 3,70 und der Bewertung "überwiegend unfrei" eingestuft. Die Punktzahl ist in den letzten vier Jahren stabil geblieben, lag vorher allerdings sogar geringfügig besser.

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