Kontra Anarchismus, Teil II
Prof. Roderick Long hat auf die Veröffentlichung "Contra Anarchism" des Objektivisten Robert Bidinotto reagiert. Er behauptet, dass Bidinottos Analyse auf einem Missverständnis des
Anarchismus beruhe: "Bidinotto glaubt offenbar, dass unter einem Markt-Anarchismus niemand einem juristischen Prozedere unterworfen werden darf, der dem nicht zustimmt. Ich stimme der Auffassung zu, dass dies wahrscheinlich ein absurdes und funktionsunfähiges System wäre."
Mit diesem letzten Satz -absurd und funktionsunfähig- hat Long tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen, denn seine Erwiderung zeigt sehr deutlich, dass er sich dem Dilemma nicht entziehen kann, einerseits für die Durchsetzung von Rechtsnormen einzutreten, andererseits aber einen "finalen Schiedsrichter" abzulehnen. Dieser Schiedsrichter wäre eine Agentur, "die sich weigert, ihre Anwendung von Gewalt einer externen Entscheidung zu unterwerfen", schreibt Long. Laut Long wäre diese Agentur "per Definition gesetzlos ..."
Andererseits geht Long aber davon aus, dass die Agenturen, die auf der Grundlage korrekter Auffassungen handeln, dass moralische Recht haben, ihre Klienten zu verteidigen gegen die Agenturen, die aufgrund falscher Ansichten handeln, wenn nötig mit Gewalt. Da die privaten Rechtsagenturen sich nicht einem finalen Schiedsrichter zu unterwerfen brauchen und jede Agentur die richtige Auffassung natürlich für sich selbst beanspruchen könnte, kann man leicht die explosiven Folgen dieser Rechtsunsicherheit in der Praxis ausmalen.
Konstruieren wir ein gar nicht so seltenes Beispiel aus der Praxis:
Nach einer Körperverletzung rufen beide Parteien unterschiedliche Rechtsagenturen, die die Interessen ihrer jeweiligen Kunden verteidigen wollen und sich ähnlich feindselig gegenüberstehen könnten, wie der Streithähne des Ausgangskonfliktes. Ein objektiver Beobachter könnte zwar relativ leicht den Schuldigen identifizieren, dieser behauptet aber, dass er sich nur gewehrt habe und weigert sich sogar, seine Personalien feststellen zu lassen - mit Hilfe seiner Agenten versteht sich. Laut Prof. Long hat die Agentur mit den richtigen Auffassungen das moralische Recht, die Interessen ihres Klienten auch mit Gewalt zu vertreten. Dieses Unternehmen könnte sich allerdings als problematisch erweisen, wenn die entsprechenden Durchsetzungsmöglichkeiten, d. h. Muskeln oder Waffen, fehlen. Es riecht hier förmlich nach dem Recht des Stärkeren.
Wenn auch Long einen finalen Schiedsrichter ablehnt, so schreibt er doch kurioserweiser, dass die Agenturen mit den richtigen Ansichten das Recht auf ein Monopol gegenüber ihren Konkurrenten mit inkorrekten Auffassung hätten. Wo es ein Monopol gibt, gibt es aber keine Anarchie mehr, sondern einen Staat, d.h. ein Rechtsagentur mit der finalen Autorität, Gesetze durchzusetzen. Diese Widersprüchlichkeit zieht sich durch den gesamten Text. So schreibt Long, dass jede Person das Recht habe, legislative, judikative und exekutive Dienstleistungen anzubieten, allerdings nicht das Recht habe, diese auf eine rechtverletzende Art und Weise auszuüben. Nur muss hier wieder die Frage gestellt werden, wer darüber entscheidet, was "rechtsverletzend" ist, denn in einem anarchistischen System gibt es nicht mehr "das Rechtssystem", sondern mehrere konkurrierende Systeme. Gewalt ist auch nicht ein Gut wie jedes andere, wie die Anarcho-Kapitalisten annehmen, sondern stellt einzigartige Gefahren für das Leben, die Rechte und das Wohlergehen der Unschuldigen dar.
Anarcho-Kapitalismus ist keine Weiterentwicklung des Objektivismus, sondern der Schritt über die Klippe in den Abgrund. Wer eine Vorstellung von dieser anarcho-kapitalistischen Utopie bereits heute erhaschen möchte, sollte sich einmal unsere Strafverteidiger ansehen, die jeden Angeklagten verteidigen und versuchen ihn vor einer Bestrafung zu beschützen, egal wie moralisch verwerflich dieser auch sein möge. Kein Argument ist ihnen zu abgeschmackt, kein Trick zu billig, um selbst die verkommenesten Mörder und Vergewaltiger vor Strafe zu schützen. Heute stehen ihnen Staatsanwälte und objektive Richter gegenüber, im einem anarcho-kapitalistischen System allerdings wäre ihnen dieses Gegengewicht abgenommen und das Problem würde sich potenzieren, weil sie sich nun zu Schutzagenturen formieren könnten.
Robert Bidinotto: Contra Anarchism, Part II
Roderick Long: Anarchism as Constitutionalism, Part 2
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